Dokumentationszentrum über die Vlaamse Rand, 2009
Fragestellung
Als Belgien 1846 die erste Volkszählung organisiert hat, wurde die Gelegenheit genutzt, um die Umgangssprache zu ermitteln. Die Zählbeauftragten, die durch die Gemeinden geschickt wurden, stellten neben allgemeinen Fragen zur sozio-ökonomischen Situation der Haushalte auch Fragen zum Sprachgebrauch. Die Fragen variierten je nach Zählung. Im Jahre 1946 hatten die Befragten die Wahl zwischen 'Französisch oder Wallonisch', Flämisch oder Holländisch', Deutsch, Englisch oder 'andere Sprachen'. Ab 1866 konnten die Befragten zwischen den 3 Landessprachen (Französisch, 'Flämisch' und Deutsch), den 4 Kombinationen (Französisch-Flämisch, Französisch-Deutsch, Flämisch-Deutsch und Französisch-Flämisch-Deutsch) oder der Option 'keine dieser 3' wählen. Es war nicht deutlich, ob diese Frage die Muttersprache, die Sprachkenntnis oder den Sprachgebrauch betraf.

Im Jahre 1866 gab es daneben auch die Option 'taubstumm'.
1880 bildeten Kinder unter 2 Jahren eine gesonderte Kategorie, 'betrachtet als nicht-sprechend'.
Ab 1910 wurde auch nach der Sprache gefragt, welche die Mehrsprachigen am meisten gebrauchten: Französisch, Flämisch oder Deutsch.
Ab 1930 kam auch die Kategorie von Mehrsprachigen hinzu, die 'die Sprache nicht , derer sie sich am meisten befleißigen'. Von da an umfassten die Sprachzählungen neben absoluten Zahlen auch Prozentanteile.
Bei der letzten Sprachzählung im Jahre 1947 war nicht mehr von 'Flämisch', sondern von 'Niederländisch' die Rede. Zudem wurden die Einsprachigen und Mehrsprachigen zusammengezählt, die den Vorzug für diese bestimmte Landessprache zum Ausdruck gebracht hatten.
Politische Folgen
Anfänglich hatten diese Zählungen keine politischen Folgen: der Verfassung zufolge durfte jeder im neu geschaffenen Belgien die Sprache seiner Wahl gebrauchen, nahezu alle offiziellen Verrichtungen verliefen jedoch auf Französisch. Durch die Sprachgesetze vom Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem aber durch die von 1921 und 1932 geriet der überwiegend einsprachig französische Charakter des belgischen Staates unter Druck. Vor allem der Einfluss der Einführung des allgemeinen einfachen Stimmrechts (1921) und die zunehmende flämische Wirtschaftskraft sorgten für eine Aufwertung des Niederländischen in den zentralen Einrichtungen und in Brüssel. Aus Furcht vor einer allgemeinen Zweisprachigkeit des öffentlichen Lebens wurde von der Wallonischen Bewegung aus darauf gedrängt, einsprachige Sprachgebiete abzugrenzen. Zur Abgrenzung dieser Sprachgebiete musste eine Sprachgrenze bestimmt werden, und dazu wurden die Sprachzählungen das vorrangige politische Instrument (neben u.a. städtebaulichen Argumenten).
Im Privatbereich durfte jeder noch immer die Sprache seiner Wahl gebrauchen, aufeinander folgende Sprachgesetze bestimmten jedoch, dass Justiz, Verwaltung und Unterrichtswesen fürderhin in der Gebietssprache arbeiten mussten. In Flandern war dies das Niederländische, in Wallonien das Französische. Das Brüsseler Ballungsgebiet erhielt ein gesondertes Sprachstatut: offiziell zweisprachig, in der Praxis hauptsächlich französischsprachig. Nahezu alle Brüsseler Gemeindeverwaltungen wählten dabei als interne Dienstsprache das Französische.
Als Folge der Resultate bei den Sprachzählungen breitete sich Brüssel systematisch aus. Gleichzeitig mit einer demografischen Expansion und einem Verstädterungsprozess schienen sich die hauptsächlich niederländischsprachigen Randgemeinden rund um die Hauptstadt systematisch zu französisieren - der so genannte Ölfleck.
Immer mehr umliegende Gemeinden wurden offiziell zweisprachig. Nach der Sprachzählung von 1920 wurde der Brüsseler Ballungsraum von 15 auf 17 Gemeinden ausgeweitet: Sint-Pieters-Woluwe und Sint-Stevens-Woluwe erhielten ein Brüsseler Sprachstatut. Außerdem wurden Laken, Haren und Neder-over-Heembeek von der Stadt Brüssel einverleibt.
Das Sprachgesetz für Verwaltungsangelegenheiten von 1932 koppelte das Sprachstatut der Sprachgrenzgemeinden sogar ausdrücklich an die Resultate der Sprachzählungen. Sobald 30% der Bevölkerung erklärten, eine andere Sprache als die offizielle Sprache der Gemeinde zu sprechen, musste die Gemeinde diese Einwohner in ihrer Sprache bedienen (ein Art Fazilität avant-la-lettre). Sobald 50% der Bevölkerung erklärten, eine andere Sprache zu sprechen, durfte die Gemeindeverwaltung die Amtssprache ändern und somit die Sprachgrenze verschieben. Die Sprachzählungen wurden dadurch mit unmittelbaren politischen Konsequenzen verknüpft. Dies hatte im übrigen zur Folge, dass Sint-Stevens-Woluwe wieder aus dem Brüsseler Ballungsgebiet herausgenommen wurde, weil dort weniger als 30% Französischsprachige wohnten.
Gleich nach der nächsten Zählung (wegen des Zweiten Weltkriegs erst im Jahre 1947) wuchs auf flämischer Seite der Protest. Die Resultate von 1947 wurden wegen der Kontroverse erst 1954 veröffentlicht. Und es zeigte sich: Brüssel war erneut gewachsen. Ganshoren, Evere und Sint-Agatha-Berchem zählten mehr als 50% Französischsprachige und erhielten ein Brüsseler Sprachstatut. Drogenbos, Wemmel, Kraainem und Linkebeek zählten mehr als 30% Französischsprachige und erhielten ein System von externer Zweisprachigkeit. Zuvor bereits wurde die Objektivität der Zählungen in Frage gestellt, doch die Einverleibung von weiteren drei flämischen Randgemeinden ins Brüsseler Stadtgebiet sorgte für eine Massenmobilisierung der Flämischen Bewegung. Flämische Vereinigungen wie der Davidsfonds, der Vermeylenfonds und der Willemsfonds bezeichneten die Zählungen als manipuliert und forderten eine Abschaffung der Zählungen und eine endgültige Festlegung der Sprachgrenze.
Das flämische Aktionskomitee für Brüssel und die Sprachgrenze (VABT) wurde gegründet. Rund 500 flämische Gemeindeverwaltungen sträubten sich gegen eine neue Sprachzählung. Die Regierung setzte daraufhin die Zählung von 1957 aus, und am 24. Juli 1961 wurden die Sprachzählungen in Belgien per Gesetz abgeschafft. Im Jahre 1962 wurde die Sprachgrenze als Bestandteil eines größer angelegten gemeinschaftlichen Kompromisses festgelegt.
Seither gibt es keine offiziellen Angaben mehr über die Sprachkenntnisse oder den Sprachgebrauch. Zuweilen werden Wahlresultate als Indikator für die Sprachverhältnisse in Brüssel und den flämischen Randgemeinden verwendet, oder es erfolgen Schätzungen auf Grund der Sprache, in welcher Personalausweise oder Führerscheine ausgestellt werden, aber genau wie bei den früheren Sprachzählungen liefern solche Analysen ein unvollständiges und undifferenziertes Bild der Sprachlandschaft.
Die VUB-Studie 'Taalfaciliteiten in de rand' ('Sprachfazilitäten im Randgebiet') umfasst eine Umfrage über den Sprachgebrauch, bei der aufgezeigt wurde, dass das Sprachbild überaus diversifiziert ist, teils unter dem Einfluss von Migrationen und anderen gesellschaftlichen Entwicklungen. Und Kind en Gezin hat gemeentelijke kindrapporten ('Gemeindliche Kinderberichte') veröffentlicht, u.a. auch mit Angaben über die Umgangssprache.

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